The Lady of Black Humour

Gratisbuchaktion. Am 6. November wird die zweifache Booker-Preisträgerin Hilary Mantel nach Wien kommen und ihren Roman „Jeder Tag ist Muttertag“ präsentieren. Wir besuchten die „Dame of the British Empire“ vorab in Südengland. Teil 1 des großen Interviews.

 

© Stefan Joham

 

Die zurzeit erfolgreichste britische Schriftstellerin hat es – wie ihren Memoiren „Von Geist und Geistern“ zu entnehmen ist – in ihrem Leben nicht leicht gehabt. Als Tochter armer, irischstämmiger und daher katholischer Eltern kam sie eher zufällig an die Universität, wo sie Jus studierte. Wegen einer falsch behandelten Endometriose litt sie an furchtbaren Schmerzen, bekam Psychopharmaka und Cortison, nahm stark an Gewicht zu und war drauf und dran, in der Psychiatrie zu landen. Bis heute leidet sie an den Folgen. Nach einer Reihe von der Kritik hochgelobten, aber wenig gelesenen Romanen gelang ihr 2009 mit dem historischen Roman „Wölfe“„ („Wolf Hall“) über Thomas Cromwell, den Kanzler Heinrichs VIII. – das ist jener Herrscher, der bekanntlich zwei seiner sechs Ehefrauen hinrichten ließ –, ein Bestseller. Darauf folgte 2012 die Fortsetzung „Falken“ („Bring up the Bodies“), die abermals mit dem Booker-Preis ausgezeichnet und von der BBC verfilmt wurde. Sogar ein Theaterstück über Cromwell war in London erfolgreich. Der dritte Teil der Trilogie, die mit der Enthauptung Cromwells enden wird („The Mirror and the Light“), ist gerade im Entstehen.

2014 wurde Hilary Mantel schließlich von Königin Elizabeth II. zur Dame Commander des Order of the British Empire ernannt. Prinz Charles teilte ihr bei der Gelegenheit mit, dass er ein Fan von „Wolf Hall“.

„Eine STADT. Ein BUCH.“, die Buchaktion des echo medienhauses, wird heuer ab 6. November ihren ersten Roman „Jeder Tag ist Muttertag“ 100.000-mal gratis in Buchhandlungen, Büchereien und bei Partnern der Aktion wie dem ORF und Wien Energie verteilen. Das Buch handelt von der an Geister glaubenden Evelyn und ihrer augenscheinlich zurückgebliebenen Tochter Muriel. Eine Geschichte voll schwarzem Humor mit ernstem Hintergrund, werden doch das englische Sozialsystem und die Arbeit von Sozialarbeitern thematisiert. Hilary Mantel arbeitete selbst einige Jahre im „Social Work Department“ einer geriatrischen Klinik, wie sie im Interview in ihrem Haus in Budleigh Salterton erzählt.

 

© Stefan Joham

 

wienlive: „Jeder Tag ist Muttertag“ war Ihr erstes veröffentlichtes Buch. Sie haben den Roman unter schwierigen Umständen geschrieben …

Hilary Mantel: Das Buch wurde in drei Ländern geschrieben. Mein Mann Gerald war Geologe. 1977 gingen wir nach Botswana in den Süden von Afrika. Es gab verschiedene missliche Umstände: Mein Gesundheitszustand verschlechterte sich drastisch, unsere Ehe scheiterte und ich ging für kurze Zeit nach England. Dann haben mein Mann und ich wieder zueinandergefunden und wir übersiedelten nach Saudi-Arabien. Ich habe mein Buch von Land zu Land mitgenommen. Ich schrieb über eine Zeit, die zehn Jahre zurücklag. Aber ich habe alles in meinem Kopf mitgetragen.

 

Gleich nach der Universität waren Sie Sozialarbeiterin. Kam Ihnen da die Idee zum Roman?

Mantel: Die Idee war zwar da, aber sie war mir nicht bewusst, denn ich hatte noch nicht mit dem Schreiben begonnen. Ich arbeitete damals mit Älteren, also mit anderen Menschen als im Buch. Aber ich sah die komischen und tragischen Aspekte der Arbeit, vor allem aber das enorme Potenzial, wo Dinge schiefgehen können. Natürlich habe ich über das Recht der Gesellschaft, sich in anderer Leute Leben einzumischen, nachgedacht. Als die Veröffentlichung meines ersten Buches scheiterte, habe ich auf das Thema zurückgegriffen und das Ganze mit einer großen Portion schwarzem Humor angemischt. Ich möchte einfach Spaß mit dem Leser haben. Und ich hoffe, dass der Leser den Witz mit mir teilt.

 

© Stefan Joham

 

Das Buch basiert also tatsächlich auf Ihren Erfahrungen?

Mantel: Ja. Als ich an meinem Buch über die Französische Revolution schrieb, recherchierte ich in der Zentralbibliothek in Manchester. Ich hatte meinen fixen Platz dort. In der Mittagspause ging ich in der benachbarten Psychologieabteilung spazieren. Meine Arbeit war die Revolution, und meine Erholung war die Psychologie. Ohne es zu wissen, schnappte ich viel Material auf.

 

In dem Buch geht es vor allem um eine Mutter-Tochter-Beziehung. Eine solche ist bekanntlich oft schwierig, oft sogar neurotisch. Gab es Vorbilder?

Mantel: Jede Mutter oder Tochter kennt diese Charaktere (lacht). Natürlich nicht so extrem. Aber darum geht es in Romanen: Man nimmt eine winzige Alltagssituation, das ist der Samen, den man wachsen lässt – aber es ist dann die Kunst, die Dinge auf die Spitze zu treiben.

 

Wie hat Ihre Mutter auf das Buch reagiert?

Mantel: Meine Mutter starb letztes Jahr mit 90. Üblicherweise, wenn eine Mutter in einem Buch vorkommt, denkt sie natürlich, es müsste um sie gehen. Meine Mutter war da anders, denn sie fühlte sich immer jung, sogar mit 90. Die Evelyn im Buch war ihr definitiv zu alt, um sich mit ihr zu vergleichen. Vielleicht bin ich selbst ein wenig mehr Muriel, als die Leser vermuten würden. Damals, als ich das Buch schrieb, war mir das nicht klar. Aber Muriel versucht sich in verschiedenen Identitäten. Sie hat ja keine eigene Persönlichkeit. Im zweiten Buch (Anm. d. Red.: „Im Vollbesitz des eigenen Wahns“) verkleidet sie sich noch dazu und verwandelt sich in andere Personen – und das ist dem ziemlich ähnlich, was Schriftsteller tun.

 

War das Buch von Anfang an ein Erfolg?

Mantel: Ja. Die Auflage betrug zwar nur 2.000 Stück und wie bei den meisten Erstveröffentlichungen war es schwer, das Buch an die Leser zu bringen, aber bei den Kritikern war es ein Hit. Das hat auch meine Verleger überrascht. Es wurde groß rezensiert. Das hat sehr geholfen, und das Buch kam gleich als Paperback heraus. Mein Verleger war bereit für meinen zweiten Roman.

 

© Stefan Joham

Haben Sie Lesungen gemacht? Wie waren die Reaktionen, vor allem auf den Kindsmord?

Mantel: Es gab nur eine einzige Lesung, denn zu dieser Zeit waren Autorenlesungen und Festivals noch nicht üblich. Und dann ging ich zurück nach Saudi-Arabien. Das Buch wurde veröffentlicht, als ich kurze Zeit wieder zu Hause in England war. Die Kritiker wussten nicht, wie sie auf den Kindsmord reagieren sollten, ob sie lachen oder schreien sollten. Aber das ist gut so!

 

Auch das Schreiben ist in diesem Buch sehr wichtig. Colin und Isabel treffen einander in einem Schreibkurs. Colins Kollege möchte aus Muriels Akte einen Roman machen – wie Sie es ja getan haben. War das nicht ein Risiko, besonders als junge Autorin, sich gleich einmal über das Schreiben lustig zu machen?

Mantel: Zu dieser Zeit gab es an der Universität noch keine Schreibklassen und ich gehörte absolut nicht zur Welt der Literatur. Ich kannte keine Schriftsteller oder Verleger, war also eine komplette Außenseiterin. Ich ging tatsächlich in einen Abendkurs – wie Colin – weil es das Einzige war, das es gab, und ich dachte, ich würde zumindest Menschen treffen, die auch gerne schreiben. Das war sehr lustig, und ich konnte nicht widerstehen, das ins Buch aufzunehmen. Muriels Sozialarbeiterin verliert deren Akte, Colins Lehrerkollege findet sie, und er glaubt, daraus einen Roman machen zu können. Das ist natürlich etwas verzwackt, aber ich dachte, das ist komisch. Ich wollte den Leser immer wieder daran erinnern, dass er einen Roman liest. Im Buch gibt es viele unterschiedliche Quellen und „Materialien“. Etwa die Briefe vom Sozialamt. Es hat mir viel Spaß gemacht, sie zu schreiben, weil ich ihr Fachchinesisch, ihren Jargon, ihre bedeutungslosen Floskeln und ihre Halbbildung kannte. Ich wusste, wie Fallberichte geschrieben werden. Dazu kommen die kleinen informellen Notizen von Sozialarbeiter zu Sozialarbeiter, in denen diese schreiben, was sie wirklich denken. Das sind mehrere Schichten.

 

Das Buch spielt in den 70er Jahren, eigentlich eine Zeit der fröhlichen Aufbruchsstimmung. Es scheint allerdings, als hätten die 60er Jahre in dieser englischen Kleinstadt nie stattgefunden …

Mantel: Das ist authentisch. Ich wuchs im Norden von England auf, ging in London auf die Universität und kehrte in den Norden zurück. Als Sozialarbeiterin war ich in einer kleinen Industriestadt nicht weit weg von Manchester tätig. Der Ton im Buch ist frei erfunden, aber der Rest ist ziemlich nahe an der Wirklichkeit. Die 60er haben dort niemals stattgefunden, höchstens vielleicht in den 80ern. Die Welt war komplett anders als in London. Ich habe ganz bewusst das Jahr 1974 ausgewählt, weil ich genau zu dieser Zeit als Sozialarbeiterin aktiv war. Ich kannte die Atmosphäre, die Probleme, die Menschen. In diesem Jahr wurden die Sozialdienste auch neu aufgestellt und massiv umorganisiert. Das Potenzial, dass Dinge schieflaufen können, war enorm, und die Gefahr für Menschen wie Muriel, dass sie durch das soziale Netz rutschen, ebenfalls.

Das ist der Grund, warum „Jeder Tag ist Muttertag“ 1974 angesiedelt ist. Ich hatte das Gefühl zu wissen, worüber ich schreibe.

 

Teil 2 des Interviews folgt.

 

Text Ursula Scheidl & Helmut Schneider

Fotos Stefan Joham